Roland Wagner: Erzählungen aus der Zukunft 1 – Zur Brisanz von Science-Fiction

Teil 2

 

Atwoods Trilogie spielt zum einen in einer Gegenwart, die gesellschaftspolitische Zustände und Stand der Technologie des 21. Jahrhunderts nur geringfügig zuspitzt. Es zeigt sich so eine Welt, die sich einerseits in sexueller Ausbeutung, Versklavung von Sexarbeiter*innen, Pädophilie, Reality-Sexfilmen und Live-Hinrichtungen im Internet, mit der Realität verknüpften Computerspielen, ausgelebten Gewalt-Fantasien, den bizarrsten Sekten oder den verschiedensten Formen der Cyber-Unterhaltung ergeht, und die andererseits unter der Herrschaft einzelner Konzerne die überragendsten technologischen Fortschritte macht, welche z.B. mittels Transplantations- und Gentechnik einer zahlkräftigen Elite enorme Verbesserungen der Lebensqualität und -spanne zu bieten haben. Die Welt teilt sich in die Hochsicherheitsviertel der Wohnanlagen in Konzernnähe und das verrufene ‘Plebsland’, das in einer Textstelle wie folgt beschrieben wird:„Trotz der sterilen Verbindungskorridore und der Hochgeschwindigkeitszüge war es immer riskant, die Stadt zu durchqueren. […] Trotz der Ausweise mit Fingerabdruck, die jetzt jeder bei sich haben musste, war die öffentliche Sicherheit in Plebsland mangelhaft: Dort trieben sich Leute herum, die imstande waren, alles Mögliche zu fälschen, und irgendwer sein konnte, zu schweigen von den Streunern ˗ den Süchtigen, den Straßenräubern, den Armen, den Irren.“ [8]

Zum anderen erstreckt sich die Handlung auf eine postapokalyptische Welt, die vom Zusammenfinden und Zusammenleben kleiner Gruppen von Überlebenden nach einer globalen Seuche geprägt ist. Obwohl zwei Krisen dieser Handlungsebene vorhergehen, die spätkapitalistischen Dekadenzen inkl. einer auseinanderklaffenden Schere zwischen Armen und Reichen & die Seuche, welche Großteile der Bevölkerung ausgerottet und damit Wirtschaft wie Gesellschaft zum Erliegen gebracht hat, lassen sich hier Visionen neuer Formen der menschlichen Existenz und des gemeinsamen Lebens lesen.

Sowohl die spätkapitalistischen technologischen Höhenflüge als auch die Krisen sind dabei Vorbedingung für die neue Zukunft ˗ ein Gedanke, der sich bei Marx als notwendige Hoch-Industrialisierung vor einer erfolgreichen Revolution findet oder der sich im anarchistischen Diktum vom Wachsen einer neuen Gesellschaft im Gehäuse der alten Welt formuliert.

Auch wenn einige Ideen der Bücher auf die Leserin fantastisch wirken mögen, ist aus Atwoods Danksagung am Ende des letzten Bandes zu zitieren, dass „es darin keine Technologien oder Biowesen [gibt], die nicht bereits existieren, sich im Bau befinden oder theoretisch möglich wären.“ [9]

 

In den Romanen argumentieren gentechnische Konzerne und ihre Verfechter, dass mittels des sogenannten ‘Organschweins’ (welches mikroben- und virenresistent ist, problemlos mehrere menschliche Nieren oder auch menschliches Neokortex-Gewebe tragen kann) die Medizin fatale oder gar tödliche Krankheiten therapieren (z.B. Hirnschlag-Patienten) könne. Gemäß Konzern-Ideologie sei dies kein Abzocken von Patient*innen, sondern das Geben von Hoffnung [10]. Eine kritische Romanfigur indes bekundet: „„Ja, genau das brauchen wir“, sagte Jimmys Mutter. „Noch mehr Leute mit Schweinehirnen. Weil wir noch nicht genug davon haben!“ […] „Doch, bei den Preisen, die NooSkin verlangt, ist es das [d.i. Abzocken] sehr wohl! Ihr hypt eure Sachen auf, lasst die Leute blechen, bis sie pleite sind, und dann ist Schluss mit der Behandlung. Euretwegen können sie verrotten. Hast du vergessen, wie wir früher geredet haben, hast du vergessen, was wir alles vorhatten? Wir wollten das Leben verbessern, für alle, nicht nur für die Reichen. Du warst so… du hattest Ideale, früher.““ [11] Die spätkapitalistische Konzern-Ideologie beinhaltet dabei z.B. auch, dass die Pharmaindustrie neue Krankheiten erschafft, um verkaufsträchtige Medikamente dagegen zu entwickeln. [12]

Die Mehrheit der Bevölkerung indes, welche in ‘Plebsland’ lebt, geht einer prekär bezahlten Beschäftigung nach, ist hochverschuldet und hat hohe Hypotheken auf ihre eventl. Eigenheime aufgenommen, welche so nicht selten Objekte von Zwangsversteigerungen werden. [13].

Wie schon oben umrissen, herrscht des Weiteren eine entmenschlichende Gesellschaftsordnung, die in einer eindrücklichen Passage von MaddAddam 3 als eine Welt des Glücksspiels, der (Cyber-)Kriminalität, der allgegenwärtigen Prostitution (inkl. von  ‘Prostibots’ und ‘Wichsroboter’, aber auch der ausgebeuteten Bio-Prostituierten) und der wiederholten Szenen des Kindesmissbrauchs geschildert wird. [14]

 

Die Roman-Figur Crake arbeitet für einen der biotechnologischen Konzerne an einem Unsterblichkeitsprojekt. Mit der BlyssPluss-Pille werden äußere Ursachen des Todes eliminiert, womit nicht nur Krankheiten gemeint sind, sondern auch Kriege (gegen die BlyssPluss mittels gesteigerter Libido aggressionsausgleichend wirkt) und Überbevölkerung inkl. Nahrungsknappheit (wozu BlyssPluss die Fortpflanzung einschränkt). [15]. Ressourcen-Knappheit gehört freilich zu den großen Themen unserer Zeit, in der Roman-Welt formuliert sich die Problemstellung wie folgt: „Die Nachfrage nach Rohstoffen hat in geopolitischen Randgebieten das Angebot schon seit Jahrzehnten überstiegen, daher die Hungersnöte und die Trockenheiten; aber bald wir die Nachfrage das Angebot für alle übersteigen.“ [16]

Die (zynische) Konzern-Lösung der Atwood’schen Trilogie darauf ist also eine (unwissentliche) Zwangssterilisation der Bevölkerung, die mittel der BlyssPluss-Pille vollzogen wird. Antrieb diese Pille zu kaufen aber ist deren Libido-Steigerung, was direkt auf die Grundstruktur der conditio humana verweist: das Begehren. Nicht nur bei Atwood weiß der Kapitalismus dieses für seine Zwecke zu nutzen: „Unnötig zu erwähnen, fuhr Crake fort, dass dieses Zeug eine ungeheure Goldgrube werden würde. Es werde die Pille sein, die jeder haben müsse, in allen Ländern, in allen Gesellschaftsformen der Welt. Natürlich würde es den Randreligionen nicht passen, deren raison d’être beruhe ja auf dem Elend der Leute, auf endlos aufgeschobener Befriedigung und sexueller Frustration, aber sie würden sich dieser Sache nicht lange in den Weg stellen können. Die Flutwelle menschlichen Verlangens, des Verlangens nach Mehr und Besser, würde sie überwältigen.“ [17]

 

Zu den umtriebigen Geschäften des Konzerns, für den Crake arbeitet, gehört auch die gentechnische Erschaffung einer neuen Art der Gattung Homo, im Weiteren nach ihrem Schöpfer Craker genannt. Das Sterblichkeitsproblem ist bei den Crakern dadurch gelöst, dass ihnen keine Furcht vor dem Tod angeboren ist und sie im Alter von 30 Jahren ohne Alterungs- oder Krankheitserscheinungen friedlich sterben. Sind einzelne (z.B. ästhetische) Eigenschaften vom zahlungskräftigen Kunden ˗ ob er einen Craker nun als Nachwuchs oder als Diener wünscht ˗ individuell bestimmbar, so fehlen ihnen aufs Ganze gesehen destruktive Merkmale, wie z.B. Rassismus (sie entbehren der Neurokomplexe zur Kategorisierung von Hautfarben), sie begehren selbst weder Eigentum noch Macht, ihre Sexualität ist frei von Unterwerfungs- oder Besitzstrukturen, ihre Kinder wachsen schneller und selbstständiger heran, sie benötigen nur karge vegetarische Nahrung und haben eine optimierte Verdauung, sie haben kein Bedürfnis Symbolismen (Herrscher, Ikonen, Geld oder Göttern: „Gott ist eine Mutation des Gehirns“ [18])zu erfinden, die ihre Art bedrohen könnten. Dabei sind sie fügsam, was sich insbesondere weltweit Politiker von einer neuen Menschheit wünschten. [19]

Indes: Crakes modifiziert die Pläne seines Konzerns, da ihm keine fügsame neue Menschheit unter der Herrschaft einer Politiker-Elite vorschwebt, vielmehr ist ein Zerschlagen des Zentrums der Macht in seinem Sinne, welches sich im 21. Jahrhundert nicht mehr in Herrschern, sondern in technologische Verbindungen ausdrückt. [20] Etwas gänzlich Anderes soll entstehen: eine neue, grundlegend freie Menschheit, die ohne Aggression oder Destruktivität im Einklang mit der Natur lebt. Mittels der ByssPluss-Pille verbreitet er so tatsächlich einen Virus, der die Menschheit ˗ bis auf wenige Ausnahmen ˗ dahinrafft; [21] die Zukunft gehört den Crakern. Oder besser ˗ so kristallisiert sich es im Lauf der Trilogie heraus ˗ einer Synthese zwischen Natur (inkl. der gentechnischen Hybrid-Tiere des Spätkapitalismus), Mensch, Craker und was an neuen Lebensformen hinzutreten mag. ˗ Die naturromantische Gärtner-Sekte, die sich neben unzähligen anderen religiösen Bewegungen im ausufernden Spätkapitalismus gründet und von der vor allem der zweite Band der Trilogie handelt, versteht (ohne zu wissen, dass der Virus von einem Menschen bewusst geschaffen wurde) den Umbruch wie folgt: „Es ist nicht diese Erde, die vernichtet werden muss: Es ist der Mensch. Vielleicht wird Gott statt unserer eine neue, barmherzigere Spezies schaffen. / Denn die wasserlose Flut hat uns überrollt ˗ nicht als gewaltiger Wirbelsturm, nicht als Kometenschauer, nicht als Giftgaswolke. Nein: Sondern genau so, wie wir seit langem befürchtet hatten, nämlich als Seuche ˗ als Seuche, die nur unsere Spezies infiziert und alle anderen Geschöpfe aussparen wird.“ [22]

 

Weder Atwood noch diese Zeilen wollen freilich eine Auslöschung der Menschheit als Lösung aller Probleme vorschlagen. Indes ist dieser Topos bei allem Thematisieren der Zukunft aufgrund der prekären Situation von Mensch und Erde (Auseinanderklaffen des globalen Südens und Nordens, Öffnung der Arm-/Reich-Schere, Klimaerwärmung, steigender Meeresspiegel, Umweltverschmutzung, Verrohung und Rückfall in die Barbarei (Neue Rechte & Fundamentalismen), anstehende Resourcen-Knappheit etc. pp.) stets mitzudenken. Auch philosophische Arbeiten, die sich mit Zukunft und Transhumanismus beschäftigen, können diese alternativen Szenarien nicht unberücksichtigt lassen.

In seinem Bestseller Homo Deus (2015; dt. 2017 ) schreibt z.B. der Historiker Yuval Noah Harari über einen nicht un wahrscheinlichen ökologischen Kollaps und damit einhergehender sozialen Konsequenzen: „Wer weiß, ob die Wissenschaft immer in der Lage sein wird, gleichzeitig die Wirtschaft vor dem Einfrieren und die Ökologie vor dem Überkochen zu bewahren. Und da das Tempo einfach immer weiter zunimmt, wird die Fehlertoleranz  immer geringer. […] Wenn es zur Katastrophe kommt, leiden die Armen fast immer weit mehr als die Reichen, auch wenn es zuallererst die Reichen waren, die Tragödie verursacht haben.“ [23]

Und die Philosophin Rosi Braidotti verweist etwas weiterführend in ihrem Posthumanismus: Leben jenseits des Menschen (2013; dt. 2014) explizit darauf, dass wir in mehrfacher Hinsicht das Inhumane, den Tod, die Katastrophe mitzudenken haben:

Denn das Inhumane ist auf perverse Weise Bestandteil des 21 Jahrhunderts, wenn in Kriegsgebieten Menschen Gras zum Überleben essen müssen und gleichzeitig europäische Kühe, Schafe, Hühner Tiermehl zu fressen bekommen – es liegt hier ein „radikaler Abbruch der Mensch-Tier-Relation“ vor [24] Der Posthumanismus erkennt das Inhumane an, welches in jedem Individuum ruht und dieses (paradoxerweise) menschlich macht: durch seine Fremdheit und seine Nicht-Rationalität. Heute ist das Fleisch hochgradig vom ‘Inhumanen’, von technischen Gebilden, durchdrungen. [25] ˗ Hingegen wendet sich das Posthumane subversiv gegen die marxistische normative Abwertung einer Verdinglichung und weiß (wie die Kunst) das künstliche und künstlerische Objekt zu schätzen. Kunst ist eine kosmische Resonanz und per se inhuman (im wertfreien Sinne) wie posthuman, sie führt gar über das Leben hinaus. [26]
Das Posthumane hat sich aber auch seinen nekromächtigen Verstrickungen zu stellen, wenn mittels Biopiraterie – Urbild ist hier die koloniale Plantage – die „globalen Obszönitäten“ Armut, Hunger, Obdach- und Heimatlosigkeit nach dem Leben trachten; wenn der Klimawandel die ganze zoë (dasLeben) bedroht;wenn ein erstarkender Fundamentalismus Frauen, Homosexuelle und sexuelle Minderheiten bedroht; wenn Kinder Kapital sind (Zwangsarbeit, Kindersoldaten); wenn die Biopolitik AIDS, Ebola, SARS und andere Epidemien gebiert; wenn der Leichnam stets präsent ist – vom Krimi bis zu den Nachrichten; wenn der seelische Tod um sich schlägt (Süchte, Depressionen, Pathologien); wenn Geflüchtete und Asylbewerber als Menschenmüll begriffen werden. [27]
Erfrischender (wenn in manchen Situationen wohl auch zynischer) Fatalismus ist Braidottis Rat, den ich im Folgenden paraphrasiere, zum Umgang mit der uns umgebenden Nekropolitik: Tun wir so, als sei alles vorbei! Leben wir mit dem Tod und nicht gegen ihn! Ein Ethos der Auseinandersetzung kann dabei einen Kontrapunkt setzen: mit neuen sozialen Bedingungen und Beziehungen aus Tod, Ungerechtigkeit, Schmerz hinaus. Denn der Tod liegt hinter uns! Begreifen wir, dass Eros und Thanatos dieselbe Lebenskraft sind! [28]

Im MaddAddam-Universum ist so die Krisis nicht mit der Auslöschung eines Großteils der Menschheit bezwungen. Vielmehr erleben die menschlichen Überlebenden ˗zunächst ohne Kenntnis vom Stamm der Craker ˗ postapokalyptische Szenen der Ladenplünderungen und Gangs auf Diebeszügen. [29]

 

Auch die transhumanen Craker stellen letztlich nur einen Aspekt der neuen Welt dar, obwohl sie grundlegend (vgl. oben) konzipiert sind, um ein friedlicheres Zusammenleben zu ermöglichen. Sind wesentliche Schwerpunkte in Atwoods Gesamtwerk (sowie dito in der MaddAddam-Trilogie) die Rolle der Frau, sexuelle Ausbeutung, Kindesmissbrauch und unterdrückte Frauen, so entwickelt

Atwood eine neue Sexualität der Craker, welche  Craker-Frauen nur alle drei Jahre als interessiert am Vollzug des Geschlechtsverkehrs konstituiert.

Was ein Schock für alle Übersexualisierten sein mag, ist indes nicht leib- oder sexualitätsfeindlich intendiert, sondern Atwood entwirft hier in überspitzter und fantastischer Weise ein verantwortungsvolles und gleichberechtigtes Modell der Sexualität, jenseits ebenso von sexueller Unterdrückung als auch Viagra-Wahn. Am Vorbild der Effekte von Paarungsbereitschaft z.B. bei Pavianen, am Vorbild von rhythmischen Natur-Abläufen und Ritualen von ‘Naturvölkern’ werben alle Männer um eine sexualitätswillige Frau, die sich sodann vier Männer auswählt, mit denen sie die Paarung vollzieht.

Die eindringliche Beschreibung Atwoods sei hier nicht vorenthalten: „Es wird das übliche Fünfergespann sein, vier Männer und die brünstige Frau. Ihren Zustand verrät ihr hellblauer Hintern und Unterleib, für alle unübersehbar ˗ die variable Pigmentierung ist den Pavianen abgeschaut und kommt unter Mitwirkung der dehnbaren Chromophoren des Tintenfisches zu Stande. Wie Crake zu sagen pflegte: Denk dir irgendeine Anpassung aus, eine beliebige Anpassung, und du wirst feststellen, dass irgendein Tier irgendwo auf der Welt schon lange vor dir auf die Idee gekommen ist. / Da nur das blaue Gewebe und die damit verbundene Pheromonausschüttung die Männer stimulieren, gibt es heute keine unerwiderte Liebe mehr, kein zurückgewiesenes Verlangen; kein Schatten fällt zwischen die Begierde und ihre Erfüllung. […] Passend zu den Unterleibern der Frauen verfärben sich auch die Penisse leuchtend blau, und die Männer führen eine Art blauen Schwänzeltanz auf, bei dem die erigierten Penisse im Takt der Fußbewegungen und gesungenen Melodien unisono hin und her schwingen: eine Eigenschaft, zu der sich Crake durch das sexuelle Winken der Krebse inspirieren ließ. Anhand der Blumengeschenke wählt die Frau vier Freier aus, woraufhin bei den Verschmähten die sexuelle Inbrunst augenblicklich verebbt, ohne dass dabei böses Blut entsteht. […] Kein Nein heißt Ja mehr, […]. Keine Prostitution, kein Kindesmissbrauch, kein Preisgeschacher, keine Zuhälter, keine Sexsklaven. Keine Vergewaltigungen. […] Wer der Vater des unvermeidlichen Kindes ist, spielt keine Rolle, denn es gibt nichts zu erben und auch keine kriegswichtige Vater-Sohn-Loyalität mehr.“ [30]

Ohne Atwoods Sexualitätsmodell ernsthaft in den Diskurs zu stellen, sei hier vermerkt, dass es sich um eine Synthese aus Natur und Technologie handelt, denn nur mittels Gentechnologie ist diese Sexualität denkbar. Eben diese Synthese aus Biologie und Technologie ist es, die eine verantwortungsvolle Sexualität und Reproduktion in der Zukunft ermöglicht; alternative Methoden der Befruchtung, medikamentöse Verhinderung von Geschlechtskrankheiten oder ungewollten Schwangerschaften, chirurgische Eingriffe in die Fortpflanzungsfähigkeit etc. pp. tun das bereits seit Jahrzehnten.

 

Beginnt schon MaddAddam 1 mit Szenen, die der eigentlichen Intention des Craker-Schöpfers entgegenlaufen, nämlich ein Interesse der Craker für Erklärungen, die sie zu Schöpfungsgeschichten mythologisieren ( in diesen werden auch Crake und seine Gefährtin Oryx zu Göttern) , so wird erst gegen Ende der Trilogie deutlich, dass hiermit nicht nur der Mythos als ein unumstößlicher Aspekt der conditio humana begriffen wird, der sich nicht weg züchten lässt. Nein, die Lernfähigkeit der Craker reaktiviert auch das Schreiben und die Schrift (ein wenig klingt hier an, dass sich der ‘Sündenfall’ der Bewusstwerdung wiederholt) und das Crakertum schreibt sich so ein in das evolutionäre und kulturelle Werden mit unbestimmtem Endresultat:

„Später ˗ nach dem Regen, nachdem der Regen aufgehört hat ˗ findet sie ihn im Sandkasten. Er hat ein Stöckchen in der Hand, und das Blatt Papier. Die anderen Kinder sehen ihm zu. Alle singen. […] Und was kommt danach? Vorschriften, Dogmen, Gesetze? Das Testament des Crake? Wie lange wird es dauern, bis es uralte Schriften gibt, denen sie gehorchen glauben müssen, die sie aber nicht mehr deuten können?“ [31]

Nicht nur die Craker haben mit ihrer Entwicklung eine Überraschung zu bieten, sondern auch die nun frei lebenden Organschweine, die der im Laufe der Trilogie zusammengefundenen Kolonie von überlebenden Menschen und Crakern begegnen: „Ein tiefes Grunzen geht von Schwein zu Schwein. Wären es Menschen, denkt Toby, würde man sagen, ein Raunen ging durch die Menge. Es muss sich um einen Austausch von Informationen handeln, aber Gott weiß was für Informationen.“ [32] Tatsächlich handelt es sich um eine Kommunikationsaufnahme mit den Menschen, die den Organschweinen ˗ man erinnere sich, dass deren präfrontales Kortexgewebe ja humanoiden Ursprungs ist! ˗ mit den empathischen Crakern als Vermittlern tatsächlich gelingen soll und zu einem friedlichen Abkommen der verschiedenen Spezies und kooperativer Aktion führt. [33]

 

Problematischer indes gestaltet sich das Verhältnis zu einer vierten, mehr oder minder intelligenten, Gruppe, den sog. Painballern. In Painball-Aren, die einen Auswuchs des Neoliberalismus darstellten, wurden einst Todesduelle inszeniert, die bis zum Kannibalismus führten, es handelte sich hier um „Konzernleben in plastischer Gestalt“, Manifestation eines raubtierhaften Kapitalismus’ also. Tatsächlich verdiente die Wirtschaft aufgrund des Spekulationswertess (Wetten) des Painballs immens an dem Projekt, welches schließlich weiter vermarktet und z.B. im Fernsehen ausgestrahlt wurde. [34] Die Kämpfer in den Arenen indes entfernten sich von ihrer Zugehörigkeit zu Homo sapiens sapiens: „Einige Spiegelneuronen und ein dicker Brocken Empathiebaustein waren ihnen abhanden gekommen. Zeigt man einem normalen Menschen ein leidendes Kind, zuckt er zusammen; diese Kerle dagegen feixten.“ [35] An anderer Stelle werden die nunmehr mordenden und vergewaltigenden Painballer als ‘seelentoter Neuromüll’ bezeichnet. [36]

Das junge Bündnis aus Menschen, Crakern und Organschweinen gerät schließlich angesichts zweier gefangengenommener Painballer an seine Grenzen des friedlichen Koexistierens, denn eine demokratische Abstimmung weiß nur das Todesurteil zu fällen. Allerdings wird  auch die ˗ möglicherweise protestierende ˗ Leserin hier an ihre Grenzen geführt, denn anthropozentrische Moral ist in der neuen Welt nicht der allgemeine Standard. So ist der junge Craker Blackbird, der auf den letzten Seiten von MaddAddam 3 zum neuen Chronisten wird, keineswegs entrüstet, sondern die Geschehnisse entziehen sich schlicht seiner Lebenswirklichkeit:

„Als die Großen Schweine gegangen waren, erzählte Toby, dass die zwei bösen Männer vom Meer davongetragen worden seien. Sie seien davongetragen worden, so wie Crake das Chaos mit dem Wasser [dem Virus] davongeschwemmt hatte. Also sei jetzt alles viel sauberer. […]

Das ist also die Geschichte des Prozesses. Es ist ein Dinge des Crake. Wir unter uns müssen keine Prozesse führen. Nur die Zweihäuter [Menschen mit Kleidung] und die Großen Schweine müssen Prozesse führen.

Und das ist gut so, denn ich mochte den Prozess nicht.

Danke. Gute Nacht.“ [37]

Noch einige weitere Dinge wird Blackbird notieren, dabei entwickelt er eine (menschliche?) Vorlieb für Feiertage, die er im Zusammenhang mit den verschiedenen Ereignissen stiftet. Unter Das Fest der Artemis, Herrin der Tiere, Vollmond schließlich weiß er über drei der Menschenfrauen zu vermelden: „In den letzten beiden Wochen haben alle drei Geburten stattgefunden. Oder alle vier, denn Swift-Fuchs hat Zwillinge zur Welt gebracht, einen Jungen und ein Mädchen. Sämtliche Kinder haben die grünen Augen der Craker, […].“ [38]

Eine weitere Art betritt so den Planeten und tritt ein in die synthetische und kooperative Gemeinschaft der intelligenten Lebensformen: die Kreuzung zwischen Mensch und Craker. Erst die Zukunft wird zeigen, welche Eigenschaften sie in sich trägt.

[Fortsetzung folgt]

=> Teil 1

 

Fußnoten

[8] Zit. nach: Margaret Atwood, ‘Oryx und Crake’ (MaddAddam 1), Berlin 2003,  S.33.

[9] Zit. nach: Margaret Atwood, ‘Die Geschichte von Zeb’ (MaddAddam 3), Berlin 2013, S. 476.

[10] Vgl. MaddAddam 1, S. 59.

[11] Zit. nach: ebd., S. 59.

[12] Vgl. ebd., S. 219.

[13] Margaret Atwood, ‘Das Jahr der Flut’ (MaddAddam 2), Berlin 2009, S. 39ff.

[14] Vgl. MaddAddam 3, S. 223ff. u. S. 236f.

[15] Vgl. MaddAddam 1, S. 302ff.

[16] Zit. nach: ebd., S. 305.

[17] Zit. nach: ebd., S. 306.

[18] Zit. nach: MaddAddam 2, S. 350.

[19] Beschreibungen der Craker finden sich über die gesamte Trilogie verstreut; die Mehrzahl der hier gegebenen Eigenschaften werden geschildert in: MaddAddam 1, S. 313ff..

[20] Vgl. MaddAddam 2, S. 255.

[21] Vgl. MaddAddam 1, S. 335ff.

[22] Zit. nach: MaddAddam 2, S. 469.

[23] Zit. nach: Yuval Noah Harari, ‘Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen’, München 2017, S. 293.

[24] Rosi Braidotti, ‘Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen’, Frankfurt/New York 2014, S. 13.

[25] Ebd., S. 121.

[26] Ebd., S. 110f.

[27] Ebd., S. 114-117, S. 123 u. S. 123.

[28] Ebd., S. 132, S. 135 u. S. 137.

[29] MaddAddam 3, S. 201ff.

[30] Zit. nach: MaddAddam 1, S. 172f.

[31] Zit. nach: MaddAddam 3,  S. 258.

[32] Zit. nach: ebd., S. 333.

[33] Vgl. ebd., S. 424ff.

[34] Vgl. ebd., S. 367.

[35] Zit. nach: ebd., S. 368.

[36] Vgl. ebd., S. 449.

[37] Zit. nach: ebd., S. 454.

[38] Zit. nach: ebd., S. 463.

 

Hinweis:

Dieser Artikel ist als Gastbeitrag eine persönliche Meinung des Autors und soll als Diskussionsgrundlage, oder um Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu lenken, genutzt werden. Die hier dargelegten Standpunkte stellen nicht zwangsläufig die der TPD dar.

 

Über den Autor

Dr. phil. Roland Wagner (*1978) studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Frankfurt am Main, promovierte mit einer Arbeit über Übermensch-Konzepte um 1900 (Ideologien. Ästhetiken, Philosophien) und übt sich heute in einer Nachdenklichkeit über die Zukunft, über die obsolete Lohnabhängigkeit im Zeitalter der Digitalisierung oder über posthumane Lebensweisen.

Steven Bärwolf