von Benjamin Eidam und Steven Bärwolf

Werden wir bald die Natur dank neuer Technologien überlisten?
Aktuelle technologische Entwicklung
Seit tausenden Jahren nutzen Menschen zur Wiederherstellung oder sogar Verbesserung der natürlichen Körperfunktionen unterschiedlichste Prothesen und andere technische Hilfsmittel, die sich seit dem stetig weiterentwickelt haben. In den letzten Jahren hat sich der Fortschritt auf dem Gebiet der Prothetik, zusammen mit der allgemeinen technologischen Entwicklung, allerdings enorm beschleunigt.
Es sind hier aktuell zwei interessante Trends feststellbar:
Zum einen funktionieren immer mehr Implantate und Prothesen besser als die Körperteile, die sie ersetzen und zum anderen werden die künstlichen Bestandteile auch immer günstiger in ihrer Herstellung.
Bezüglich des ersten Trends lässt sich sagen, dass es inzwischen tatsächlich auch „Enhancement-Prothesen“ gibt bzw. in Entwicklung sind, die nicht nur Körperteile ersetzen und eventuell noch verbessern, sondern sogar die ursprünglichen menschlichen Fähigkeiten beträchtlich erweitern.
So konnte man bis vor kurzem mit bionischen Augen kaum mehr als einen schwarz-weißen Pixelbrei wahrnehmen, doch mittlerweile steht die Wissenschaft an der Schwelle zur erweiterten Wahrnehmung des Lichtspektrums.
Dass sich das Gehirn an ein weites Spektrum von verschiedensten Szenarien anpasst, wissen wir bereits, doch was bedeutet es – auf so vielen Ebenen – wenn wir auf einmal Infrarotstrahlung und ultraviolettes Licht sehen und Ultraschall hören könnten?
RFID-Chips unter der Haut, Herzschrittmacher, Cochlea-Implantate und künstliche Gelenke [1] [2] zählen seit Langem zu bekannter medizinischer Routine, doch die jetzige Generation von „biologischen Ersatzteilen“ geht viele Schritte weiter [3], sie ermöglicht das Erleben von bisher kaum vorstellbaren, geschweige denn erlebbaren, Dingen [4].
Bereits in der aktiven Testphase sind beispielsweise die Wahrnehmung des eigenen Blutzuckerspiegels oder des Zustands eines elektronischen Geräts. [5] Die Frage, die diese Entwicklung aufwirft, ist die Frage, inwieweit Ungleichbehandlung sich jetzt ins andere Extrem verlagert, da künstlich „erweiterte“ Menschen auch einen vollkommen anderen Handlungsspielraum besitzen.
Man kann und sollte diese Entwicklung allerdings trotz dieser Möglichkeit positiv sehen, da sie es prinzipiell jedem ermöglicht, transzendente Erlebnisse zu haben.
Der zweite feststellbare große Trend bezieht sich auf Breitenverfügbarkeit und Kostenentwicklung von vielen Prothesenarten.
So werden einige der oben genannten Entwicklungen, und viele weitere, immer schneller immer einfacher verfügbar, und – das ist die größte Veränderung – sehr schnell extrem günstig im Vergleich zum bisher vorherrschenden Niveau.
So liegen die Kosten für Gliederprothesen aktuell fast immer im hohen fünfstelligen Bereich; doch dank neuen Technologien, neuen Materialien und neuen Zugangswegen zu diesen, können die Kosten mittlerweile oftmals in einen niedrigen dreistelligen Bereich gebracht werden.
Konkret hat diese Entwicklung der Erfinder Easton LaChappelle [6] im großen Stil vorangetrieben; er hat eine Prothese gefertigt, die, statt 80 000 Dollar, nur noch wenige hundert Dollar kostet – trotz individueller Anpassung und Beratung usw.
Forscher und Entwickler sind mittlerweile sogar an einem Punkt angelangt, an dem jeder daheim selbst die benötigte Prothese konstruieren und anpassen kann – Zeit, Ressourcen und Vorwissen vorausgesetzt.
Eine weitere Möglichkeit zeigt Amos Dudley [7] auf, ein Student, der aus Geldknappheit einfach seine eigenen Zahnprothesen entwickelt und eingesetzt hat; zu einem Bruchteil der Kosten und in einem Bruchteil der sonst üblichen Zeit.
Auch im Bereich der Bio- bzw. Organtechnologien kann man mittel- bis langfristig eine ähnliche Entwicklung erkennen. Die grundlegenden Technologien besitzt die Menschheit bereits seit geraumer Zeit. [8] [9] Disruptive Potenziale, wie die erläuterten, schlummern aktuell in der gesamten Branche. [10]
Und auch wenn diese Entwicklungen natürlich erst der Anfang sind, zeigen sie doch bereits heute, was möglich ist und wohin die „Reise gehen kann“ und sollte.
Wir haben Hilfsmittel wie den 3D- und bald auch den 4D-Druck [11] [12], 3D-Scanning, Crowdfunding, Open-Source-Design-Plattformen, Echtzeitkommunikation und Möglichkeiten zum Wissenserwerb in einem nie da gewesenen Umfang – das müssen wir nutzen! Denn die sich daraus ergebenden Chancen sollten jedem zur Verfügung stehen, wenn er sie benötigt. [13] Deshalb müssen die sich bietenden Möglichkeiten zur Entwicklung und Bereitstellung dieser Verbesserungen jedermann zugänglich gemacht werden.
Ein weiterer Vorteil unserer heutigen Technologien ist die fast in Echtzeit mögliche Veränderung und Anpassung eigener Ideen.
Ist ein Design erst einmal auf Plattformen wie Thingiverse vorhanden oder wird direkt, beispielsweise via Dropbox oder Facebook, geteilt, kann es jeder verbessen; so können innerhalb weniger Tage viele unglaublich gute Entwürfe entstehen, die im Zweifel durch eine Crowdfundingkampagne finanziert werden können.
Die Chancen, Menschen zu helfen, waren noch nie so groß und so gut wie heute.
Doch, wenn unsere Möglichkeiten sich derart rasant erweitern und derart schnell für jeden zugänglich werden, wo wird uns dies hinführen?
Man kann hierbei vor allem gesellschaftskritische Aspekte erkennen; denn sobald erschwingliche erweiternde Prothetik allgemein verfügbar ist, hat die Gesellschaft möglicherweise das gleiche Problem wie schon heute mit Menschen, die sich genötigt sehen, verschiedene Substanzen zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit einzunehmen. [14]
Man kann argumentieren, dass wir bereits mit diesen verhältnismäßig einfachen Mitteln andere Arten von Menschen schaffen.
Streng genommen machen wir dies seit den ersten Prothesen bereits, denn wer weiß, wie die eingesetzten Werkstoffe mit den Körpern wechselwirken, welche Gene durch implantierte Herzschrittmacher und Titanhüftgelenke an- oder ausgeschaltet werden? Und wie wird dies erst mit erweiterten Sinnen und verbesserten Interaktionsmöglichkeiten? Wie wird ein Arm, der hundertmal belastbarer als normal ist, unseren Alltag verändern? Können wir die potenziellen Auswirkungen auch nur im Entferntesten absehen?
Die Frage, die Juan Enriquez in seinem TED-Talk [15] gestellt hat, stellt sich daher anders:
Die Frage ist nicht, ob unsere Kinder eine andere Spezies als wir sein werden, sondern ob unsere momentan „Schwächsten“ systematisch dabei sind, sich in eine andere Spezies zu entwickeln.
Denn diese sind die Ersten, die von vielen unserer neuen Technologien am meisten profitieren.
Eines kann man momentan mit Sicherheit sagen: Die Zeiten, in denen wir einfach nur versucht haben, die normale Funktionalität von Körperteilen wiederherzustellen, sind zu Ende.
Möglicherweise erleben wir damit aktuell, neben direkten Eingriffen in die Biologie, in Echtzeit eine weitere Facette der Evolution des Menschen.
Wenn wir adäquat mit den neuen technologischen Möglichkeiten umgehen, kann eines Tages vielleicht jeder unbeschwert und schneller als ein Rennpferd laufen, sofern er das möchte. [16]
Quellen:
[1] https://www.ted.com/talks/hugh_herr_the_new_bionics_that_let_us_run_climb_and_dance
[2] https://www.ted.com/talks/aimee_mullins_prosthetic_aesthetics
[3] http://detektor.fm/wissen/cybathlon-2016-athleten-mit-prothesen
[4] https://www.ted.com/talks/neil_harbisson_i_listen_to_color
[5] https://www.ted.com/talks/david_eagleman_can_we_create_new_senses_for_humans
[6] http://theroboarm.com/
[7] http://amosdudley.com/weblog/Ortho
[8] https://www.ted.com/talks/nina_tandon_could_tissue_engineering_mean_personalized_medicine
[9] http://wyss.harvard.edu/viewpage/461/
[10] https://www.youtube.com/watch?v=aQsAHhRxwvw
[11] https://www.ted.com/talks/joe_desimone_what_if_3d_printing_was_25x_faster
[12] http://www.iflscience.com/technology/explainer-what-4d-printing
[13] https://www.youtube.com/watch?v=9NOncx2jU0Q
[14] http://www.klinikum-nuernberg.de/DE/aktuelles/knzeitung/2012/201202/neuro-enhancer.html
[15] https://www.ted.com/talks/juan_enriquez_will_our_kids_be_a_different_species?language=en
[16] http://www.welt.de/sport/article111981331/Beinamputierter-Pistorius-schneller-als-ein-Pferd.html
Bemerkung:
Dieser Artikel ist der 2. Teil eines Gesamtartikels, welcher zuerst in der Ausgabe 2/2016 der Fachzeitschrift „FIfF-Kommunikation – Zeitschrift für Informatik und Gesellschaft“ veröffentlicht wurde.
Dieser Artikel ist eine persönliche Meinung des Autors und soll als Diskussionsgrundlage, oder um Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu lenken, genutzt werden. Die hier dargelegten Standpunkte stellen nicht zwangsläufig die der TPD dar.
Die drei Teile des Artikels sind auch auf unserer Webseite zu finden: